Je öfter ich durch die Stadtviertel in Lima streune, desto besser finde ich mich in der Metropole zurecht. Wie ich bald feststellte, gilt in Peru: Alle Wege führen über Lima. Egal, ob man verreisen will, eine neue Kreditkarte braucht oder einen fachspezifischen Arzt, am Ende steht man wieder in der Wüstenstadt. Selbst wenn man sich schon östlich der Anden befindet, ist es oft einfacher, noch einmal an die Küste des gigantischen Landes zu reisen, anstatt zu versuchen, sich direkt gen Norden oder Süden zu begeben.

Zweimal verbringe ich einen kurzen limanesischen Sommer in Perus Hauptstadt und arbeite in staubtrockenen Außenbezirken in einem Schulgartenprojekt von der NGO econtinuidad mit. Die Anfahrt zu diesem Projekt von econtinuidad durch den Verkehr in Lima dauert mit den Colectivos läppische zwei Stunden.

Jedes Mal, wenn ich danach wieder in meinem kleinen Pozuzo nur die einzige Straße queren muss, um einzukaufen, oder exakte vier Minuten bis zur Schule schlendere, bin ich unendlich froh über diesen entschleunigenden Alltag. In Pozuzo gibt es keine Hektik. Stattdessen scheint die Zeit manchmal so wunderbar langsam zu verstreichen, dass man sich am Ende des Tages wundert, wie denn die Sonne auf einmal untergehen konnte.
In Lima hingegen wechselt mit jeder Fahrt die Umgebung. Eine Fahrt von einem Stadtviertel in Lima zum nächsten gleicht einem Wechsel zwischen verschiedenen Mikrokosmen. In die verrosteten Autobusse können sich beliebig viele Menschen quetschen. Je nach Verkehrsfluss benötigt man für einen Wechsel zwischen einem Stadtviertel in Lima zum nächsten über zwei Stunden. Generell scheint es tagsüber nur zwei Verkehrslagen zu geben: Stau und sehr viel Stau.

Lima ist riesig und voller Gegensätze, doch auch hier habe ich meine eigenen kleinen Anhaltspunkte geschaffen. Jeder Namen eines der dreiundvierzig Stadtviertel in Lima ruft andere Bilder in mir hervor. Erinnerungen an vergangene Fahrten und Abenteuer in den Straßen der Hauptstadt, an so viele skurrile Momente in Lima. Ich laufe durch die Stadt und sehe in Gedanken mein jüngeres Ich vor mir, durch unzählige Tage von mir getrennt und doch zum Greifen nahe. Manchmal sind es nur wenige Nächte, die uns trennen, ein paar Augenblicke, eine Entscheidung.
Miraflores, das sind die Katzen und das Meer, der Ovalo, die Costa Verde und eine verrückte Taxifahrt im Sommer.

Rückblick: An meinem zweiten Tag in Lima besuche ich mit Freiwilligen den beliebten Souvenirmarkt Mercado Indio, bevor wir uns direkt in Limas touristischste Zone begeben: den Parque Kennedy in Miraflores. Sogleich sind wir umstromert von zahllosen Katzen.

Sie laufen durch die akkurat angelegten bunten Blumenbeete, liegen auf den Gehwegen und balancieren über die Brunnen- und Sitzbankränder. Anschließend machen wir uns auf, um das Meer zu suchen. Über eine bunte Steintreppe gelangen wir bald an den Pazifik. Als wir die vollkommen leere Straße hinuntergehen, ergibt sich uns der berühmte Anblick von Limas Steilküste mit Paraglidern im Himmel und Surfern im Wasser.
Barranco, das sind bunte Häuser, Artisten und Maler, die Seufzerbrücke, eine Straße, die nur nachts zum Leben erwacht und zu teures Essen.

Rückblick: Am letzten Abend stürzen wir uns in das Nachtleben und bleiben bis zum Morgen. Die Clubs sind gefüllt mit Einheimischen und Studenten aus den USA, Frankreich, Tschechien und Deutschland. Nur Salsa? Nicht in Lima.
Das Centro Antigua von Lima, das sind der Mercado Central, das Barrio Chino, ein Himmel, der plötzlich aufreißt, das Festival der Masken und der Cerro San Cristóbal.

Rückblick: Wir trinken frischgepresste Säfte, immer wieder einen anderen, zu jedem Essen gibt es Reis dazu. Auf dem Mercado Central wird man beinahe erschlagen von Lärm sowie dem Geruch nach frischem Fisch, ungekühltem Fleisch, faulender Ware und verheißungsvollem Mittagessen.

Ein Menú auf der Straße kostet um die zehn Soles, auf dem Mercado jedoch gibt es dasselbe für drei. Tote Meerschweinchen liegen zwischen Schweinshaxen, Tintenfischen und Hühnerschenkeln, um die sich streunende Hunde und Katzen balgen.
Mit einem Colectivo gelangen wir vom Centro Antigua direkt auf Limas Hausberg, den Cerro San Cristóbal. Nach der steilen Anfahrt liegen die Stadtviertel in Lima still und grau unter uns, werden zum glitzernden Lichtermeer in der kühlen Dämmerung.
Comas, das sind streunende Hunde, billiges Obst, verruchte Beamte, heruntergekommene Autowerkstätten und das Schulgartenprojekt von econtinuidad.
La Victoria, das sind die Schwarzmärkte, die Überlandbusse, Bettler, Dealer, gesprungene Scheiben, baumelnde Schuhe an Stromkabeln und der tote Hund an der Laterne.
La Molina, das sind Gated Communities, eine Lagune voller Abwasser, das peruanische Oktoberfest und ein Schwimmbad im Garten.
Callao, das ist der Flughafen, Ankommen und Abschied, immer wieder.
Dreiundvierzig Mal Lima, dreiundvierzig Stadtviertel und unzählige Gedankensplitter: Lima ist ein Mosaik aus dreiundvierzig Spiegelscherben, bunt und reflektierend, mit einem nebligen Schleier darüber.
Wenn ich nun an Lima denke, denke ich vor allem an Stau und Autofahrten entlang der Costa Verde. Ich sehe die Mosaikmauer im Parque del Amor vor mir und das verlorene Seehundjunge am Pier. Alles scheint aus unterschiedlichen Schattierungen von Grau- und Blautönen zu bestehen: der Pier, das Meer, die Silhouetten der Gebäude, der Himmel.

Der Horizont ist nichts als ein verwaschener Streifen Grau, auf den die Möwen zufliegen, während ich die feuchten Gischt- und Nebeltropfen auf meiner Haut aufkommen spüre.