Das H&M-Syndrom

Das H&M-Syndrom existiert nicht, nicht offiziell zumindest, und dennoch ist es für mich der Überbegriff von dem geworden, was wohl gemeinhin eher als Eigenkulturschock bekannt  ist. Eine Ansammlung von Alltagssituationen, die mich aus ebendiesen reißen und in den immergleichen Zustand aus Überforderung und Unverständnis versetzen.

Als ich nach zwei Jahren nach Hause komme, komme ich nicht mehr an. Die Wälder, die Felder, die Kühe vor der Tür und das Haus sind noch da, aber ich selbst bin es so lange nicht gewesen. Zwei Jahre können eine lange Zeit sein. Ich bin wieder heim gekommen, und alles hat sich nach heimkommen angefühlt aber eben auch nicht, denn ich war nicht mehr nur dort zu Hause.

Es tut mir Leid, Noemi

Auf einmal stehe ich wieder da, in dem Zimmer, das nicht mehr das meine ist. Erinnerungen an den Wänden, die zu einer anderen Zeit gehören. Dieselben Bilder, die ich damals mit auf Reisen nahm und die dennoch nicht mehr hierher passen. Alle, die darauf abgebildet sind, sind weggezogen.

“Schön, dass du wieder daheim bist, wir sollten uns mal treffen – so in vier Monaten vielleicht?”

Unzählige Hufeisen rund um den Türrahmen. Ich habe kein Pferd mehr. Draußen fährt der Bauer T. vor meinem Fenster vorbei und ich frage mich, ob er mich noch erkennt. Neben mir steht mein Backpack, noch nicht ausgepackt, vor mir mein Kleiderschrank, offen. Ich erkenne die Sachen nicht wieder. Kleider über Kleider an der Stange, zehn Cardigans, die alle gleich aussehen, Wintermäntel, an deren Existenz ich mich nicht erinnere. Mein letzter Winter ist 2,5 Jahre her und draußen steht die Augustsonne am Himmel.

Meine Kleidung in Peru war grob in zwei verschiedene Kategorien unterteilt. Zum Arbeiten oder Reisen und zum Feiern, für Geburtstage, Festessen und die Sonntage. Ich kannte jedes Klamottenstück, das ich dabeihatte. Viele gab ich K., den Rest bekam Noemi, obwohl sie ihr nicht passen konnten. Aber vielleicht ihren Schwestern, die ich nicht kannte, und die ihr dann eigene Sachen weitergaben.

“Wie viele Kleidungsstücke besitzt du?”, hatte sie mich einmal beiläufig gefragt. Ich war so erstaunt, dass ich nicht antworten konnte, ehe sie weiterredete. Ich hätte die Antwort nicht gewusst. “Ich habe jetzt acht”, sagte sie. Ich kam mit zwei Koffern an und reiste mit einem Backpack zurück. Ich war der Meinung, viel zurückzulassen. Ich hatte tatsächlich Sorgen, für daheim keine passenden Sachen mehr zu haben. Jetzt ziehe ich die zurückgelassenen Sachen aus meinem Schrank und lege sie auf den Boden. Es sind so viele, viel zu viele. Und auf einmal sitze ich da, inmitten des Klamottenhaufens, und weine. Es tut mir Leid, Noemi.

Das H&M-Syndrom

Ich packe meinen Rucksack wieder und wieder. Australien, Berlin. Und ich betrete den H&M wieder. Bevor ich zur Kasse gehe, sehe ich immer Noemi vor mir, und manchmal, da schaffe ich es nichtmal durch die Tür. Irgendwann ruft mich S. an. Wir tauschen ein paar Lebensupdates aus, bevor wir wieder auf unser Dauerthema Peru abschweifen.

Sie fragt, ob es mir nicht auch so gehe.

Wie, frage ich.

Ob ich das aushalte, fragt sie.

Irgendwie, sage ich.

“Ich habe es gestern nicht mehr ausgehalten”, sagt sie. “Es war alles zu viel. Ich war in einem H&M und da waren all diese Menschen, all die Mädchen, die…”

Sie stoppt und ich schlucke, kämpfe darum selbst nicht die Fassung zu verlieren und es auszuhalten, mich auszuhalten.

“Ich weiß”, sage ich. Ich weiß.

Ganz normal

Ich drücke die große Doppeltür auf und an mir strömen dutzende Menschen vorbei. Fast augenblicklich denke ich daran, wie ich das letze Mal eine Shoppingmall betreten habe. Eine andere Tür, nicht zum Drücken, sondern mit Automatik und aus Glas. Stoffe statt Leute.  Aus irgendeinem Grund verbinde ich dieses Durch-die-Tür-gehen in diesem Moment mit meinem H&M-Syndrom. Ich will weinen, Zeit haben zu weinen. Auf der Stelle zusammenbrechen oder von derselben wegrennen. Doch ich laufe weiter. Alle laufen wir weiter, aneinander vorbei und ineinander rein, und wir merken es nicht einmal. So viele Stimmen, so viele Leben, so viele Gedanken. Und auf einmal breche ich doch zusammen, obwohl ich doch laufe, weiterlaufe, immer weiter und vorbei.

„Wie viele Kleidungsstücke besitzt du?”, fragt Noemi und ich sehe sie förmlich vor mir, die Neugier in ihren braunen Augen, und könnte auf der Stelle anfangen zu weinen.

Es tut mir Leid, Noemi.

Dann gehe ich weiter, durch das Stimmengewirr und die Massen aus Menschen und Kleidung, Beton und Glas. Vor mir schwingt eine Tür ohne meine Berührung vollautomatisch nach innen auf und ich laufe hindurch, ganz normal, gehe unter, ganz normal, und fühle mich ein bisschen zwischen Welten.

Tage mit Noemi.
Tage mit Noemi.

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert.

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

error: Hey, das sind meine Inhalte! Wenn sie dir gefallen, lass uns drüber reden...