Der Weg zu den Paradieshügeln von Lima führt mich mitten ins Grüne. Von vielen Einwohnern der Wüstenstadt werden die Lomas de Villa María del Triunfo, zu deutsch die Bergrücken von Villa María del Triunfo, auch als als Lomas de Paraiso bezeichnet. Angesichts des Wassermangels in Perus Hauptstadt wirkt der gesamte Hügelbezirk von Limas Außenviertel Villa María del Triunfo wie eine grüne Welt für sich, wobei die Lomas ihren prachtvollen Namen der gleichnamigen Straße “El paraíso” verdanken. In leichten Kurven führt diese über die Paradiesschlucht bis in die Hügel, bevor sie abrupt zwischen Wellblechhütten und Hunden endet.
Bei 50 Metern Sichtweite wegen des regenwaldähnlichen Nebeldunstes kann ich ab dem Betreten eines schmalen Pfades nur noch einzelne Felsbrocken vor mir ausmachen. Die gesamte Landschaft mutet fast skandinavisch an, die Ruhe wirkt drückend über den Hängen der Millionenstadt Lima. Auch beim Weiterlaufen bleibt es ganz still um mich herum, nur ab und an fliegen lautlos Vögel auf. Über den Erdweg gelange ich höher und höher und verliere mich in der ruhigen Atmosphäre, die die Natur um mich herum ausstrahlt.

Nach diesem Abstecher in die Lomas fühle ich mich bereit, den größten Friedhof Südamerikas, den Cementerio Virgen de Lourdes in Lima, zu betreten. Auch auf der ruckeligen Colectivofahrt weicht die gedrückte Stimmung nicht von mir. Schreiende Verkäufer und hupende Autos ziehen vorbei, ein Rausch von Farben, die für mich in einem graugrünen Strudel versinken.
Schließlich fahre ich mit dem Combi mitten durch das riesige Eingangsportal des zweitgrößten Friedhofes der Welt. Auf der Erdpiste hört man nun nur noch das Knirschen der Räder und das Geplapper der Mitreisenden. Der laute Straßenverkehr von Lima bleibt draußen, ebenso der trockene Staub. Statt chaotisch und unübersichtlich wirkt der Friedhof Virgen de Lourdes in Lima vor allem eines: mystisch.

Durch die kalte Jahreszeit hat sich ein feuchter Moosteppich über die Hügel gelegt, einzelne Nebelschwaden ziehen durch die Bergkuppen und über die Gräber hinweg. Bunte Ruhestätten verteilen sich auf den saisonal grünen Hügeln, überall sind Kreuze.
Vereinzelt sieht man auch hier streunende Hunde, weiter oben grasen eine Herde Schaf und eine Ziege. In der Ferne erklingen durch den Nebel leise Harfenklänge, sanfte Andenmusik wird über die endlosen Friedhügel bis an mein Ohr getragen. Für ein paar Soles spielen peruanische Musiker für Trauernde, Feiernde oder Besucher typische Harfenlieder. Was einem anfangs seltsam vorkommt, scheint hier selbstverständlich zum Ambiente zu gehören. Schließlich wird bei einem Todesfall in Peru auch zunächst bei Bier, Kerzen und Essen um den aufgebahrten Toten herum seiner Person gedacht, und zum Tag der Toten wird zu Ehren aller verstorbenen Bekannten und Verwandten generell gefeiert. Am Bekanntesten sind die riesigen Feierlichkeiten zum Tag der Toten, auf Spanisch día de la muerte, in Mexiko. dort verliert sich das ganze Land in einem Ausnahmezustand aus schwarzen Tänzen und weißen Totenkopfmasken. Doch auch in Peru gibt es ausartende Feiern um und auf den Gräbern am día de la muerte oder zum jeweiligen Todestag des Verstorbenen.

Von der letzten Totenfeier auf dem Cementerio Virgen de Lourdes in Lima liegen noch überall Blumen und leere Bierflaschen herum. Plastikplakate hängen vor den Gräbern, in kleinen Autos fahren die Menschen zu den gewünschten Ruhestätten, laufen mit Blumen durch die riesige Grablandschaft. Als wir den unendlichen Friedhof wieder verlassen bleibt in meinem Kopf der Anblick von bunten Bändern, die im Wind an unzähligen Kreuzen flattern.

Viel später, als ich mit einem peruanischen Freund das Grab seines Großvaters besuchte, um Aufnahmen seiner letzten Ruhestätte zu dokumentieren, wurde ich wieder an dieTradition des letzten Tanzes erinnert. Mit Gummistiefeln im Schlamm stehend fragte ich ihn, ob es ihm nichts ausmachen würde, dass ich für die Aufnahmen auf das Grab klettern müsse – noch dazu in Gummistiefeln. Er lachte, deutete auf die neben dem Grab grasende Kühe und sagte:
„Selbst die Kühe dürfen über sein Grab laufen, wenn sie nur wollen. Und bei dir, Kayita, bei dir kann ich nur sagen: Solltest du mal auf meinem Grab stehen und tanzen, dann wäre das eine Ehre für mich.”