„El Taxi“ oder eine Fahrt durch Peru

Wie es die Taxis in dem dichten  Verkehr in Lima schaffen, sich immer weiter vorzudrängen, habe ich immer noch nicht ganz verstanden. Schaut man den Fahrern zu, scheinen sie eher Boxauto zu spielen und neue Flüche zu entwickeln anstelle von Taktiken, wie sie die Colectivos überholen können. Doch vor allem in der Gruppe lohnt sich eine Taxifahrt, da diese aufgeteilt nur ein paar Soles teurer ist als ein Colectivo. Und so sitze ich früher oder später wieder mit sechs Freunden in einem kleinen Taxi in Lima, alle wild übereinandergeqetscht.

Autokolonnen ziehen sich wie metallische Schlangen durch Limas staubige Straßen.
Autokolonnen ziehen sich wie metallische Schlangen durch Limas staubige Straßen.

Hinter uns stapelt sich das Gepäck. Bei jeder der unzähligen Bodenschwellen reißt jemand anders die Arme hoch, um seinen Kopf vor der Decke zu schützen. Durch die offenen Fenster strömt Auspuffluft über uns hinweg, Fahrtwind verwirbelt unsere Haare, bevor wir wieder feststecken. Autos hupen, Menschen schlagen gegen Seitentüren, klopfen mit Lebensmitteln, die sie noch verkaufen wollen, gegen Glasscheiben. Anfahren, Ruckeln, Beschleunigen, abruptes Stoppen.

Gelb wie Kola. Inka Kola.

In ihren gelben Inka-Kola-Türmchen versuchen Verkehrspolizisten Herr über das Chaos der selbst erdachten vier bis sieben Spuren zu werden, winken und pfeifen gegen ein nicht abklingendes Hupkonzert. Mein Lieblingsstraßenschild ist ab sofort das, welches den Limeños befiehlt, ihre Hupe nur sinngerecht zu verwenden.

Lieblingsschild #2 in Lima befindet sich an der Costa Verde.
Lieblingsschild #2 in Lima befindet sich an der Costa Verde.

Die wegen Korruptionsvorbeugung nur aus Frauen bestehende Motorradstaffel der Polizei wirkt in ihre Kluft aus schwarzen Lederstiefeln sowie engen beigen Hosen mit braunem Kniebesatz wie ein Reitverein neben den Verkehrspolizisten. Sobald sich eine Alarmanlage einschaltet oder jemand rückwärts fährt, weben sich in die Geräuschkulisse neben den Trillerpfeifen auch Tonabfolgen aus vier verschiedenen Melodien. Taxis und Privatautos, Colectivos und Busse, Motorräder und fliegende Händler: sie alle bilden die Komponenten des graubunten Verkehrs, der sich unter riesigen Werbeanzeigen seine Wege durch Lima bahnt.

Von Wahlplakaten grinsen Politiker die soziale Verbesserung auf die Stadt herab, und im Hintergrund zeichnen sich im morgendlichen Nebeldunst die Ausläufer der Anden ab. Lima ist laut, verstopft, dreckig und wunderbar. Die graue Stadt ist eine Palette gefüllt mit Grautönen und den buntesten Farbklecksen.

Grau trifft Blau: die Pazifikküste in Lima, auch die "grüne Küste" genannt.
Grau trifft Blau: die Pazifikküste in Lima, auch die “grüne Küste” genannt.

Jedes der 43 Stadtviertel in Lima scheint eine Stadt für sich zu sein. Wenn ich in Lima bin, nehme ich mir immer auch Zeit, alleine wahllos durch die Straßen zu streifen oder einfach eine Weile Colectivo zu fahren. Ich bahne mir einen Weg, ohne sicher zu wissen, wohin dieser eigentlich führen soll.

Limas Straßen führen kunterbunt durch Lima. Manchen Ecken und Szenarien begegnet man immer wieder, andere scheinen nur für den Augenblick zu existieren.
Limas Straßen führen kunterbunt durch die Stadt. Manchen Ecken und Szenarien begegnet man immer wieder, andere scheinen nur für den Augenblick zu existieren.

Immer wieder spreche ich Leute an, die mir meist nicht nur entgegengesetzte Auskünfte geben, sondern mir auch gleich ihre Lebensgeschichte erzählen, mich als ihr Herz oder ihre Tochter bezeichnen und sehr interessiert daran sind, was mein Beweggrund ist: in Lima und allgemein in Peru. Im Leben, im Jetzt und Hier.

Oft nehme ich tagsüber, zumindest wenn ich nicht mit sämtlichen Wertsachen reise und es für die Rückfahrt zu eilig habe, ein Taxi von der Straße (Titelanspielung: Hier bitte für einen typischen Reggaeton-Ohrwurm “El Taxi” anhören). Ist es schon dunkel oder geht es um schwierigere Strecken, bestelle ich mir über die Uber App (eine günstige Alternative zu easytaxi) ein Taxi in Lima. In jedem Fall fotografiere ich das Kennzeichen so ab, dass der Fahrer auch gleich mitbekommt, was ich getan habe: Eine Angewohnheit, die mich leider auch in Deutschland nicht mehr loslässt.

Wer bist du?

Der Großteil der Fahrer in Peru reagiert zum Glück mit einer Mischung aus Resignation und Humor auf diese Vorsichtsmaßnahme. Die Neugier ist geweckt, und schon entstehen Gespräche, die sich in ganz Peru nach den immergleichen  Regeln abzuspielen scheinen. Wer bist du? Woher kommst du? Wieso sprichst du Spanisch? Wie ist dein Land so? Kann ich dir meinen Sohn vorstellen (kein Witz)?

Blick durchs Busfenster: Lima naht.
Blick durchs Busfenster: Lima naht.

Ich frage mich dann manchmal, wie schlimm es ist, diesen Fragen mit einer Lüge zu begegnen. Bei Starbucks bin ich schließlich nie ich selbst. Ich bin Anna, Lena oder Sara. Ein Mädchen ohne Identität oder eine Weltenbürgerin unter vielen. Ein einfacher Name, bei dem man sich nicht bei jedem einzelnen Buchstaben verschreibt. Ich frage mich, wie viele Menschen wissen müssen, wer ich bin. Wie viele wissen wollen, wer ich bin.

Selten erlebt man Limas Straßen so leer wie in den Gated Communities von La Molina.
Selten erlebt man Limas Straßen so leer wie in den Gated Communities von La Molina.

 

Wenn ich ihnen ansehe, dass sie mein Gesicht am nächsten Tag schon vergessen haben, was interessiert es da schon, ob ich 16 oder 30 bin, ob ich Psychologie studiere, Englisch unterrichte, in einer Werbeagentur arbeite, Freiwillige oder eine Reisende bin, ein Mensch auf der Suche. Nichts von dem, was ich erwidere, ist falsch – doch manchmal handelt es sich eben auch nicht um meine eigene Geschichte. Je nach Gesprächsverlauf erzähle ich dann von Getreidefeldern in Italien, von Essgewohnheiten in den USA, Vulkanen auf Island oder bestätige schlicht, dass ich bereits verheiratet im Hinterland von Peru wohne.

Manchmal ist es spannender zuzuhören, als zu überlegen, wie man die immergleiche Geschichte vorsichtig verpackt. Sie muss spannend sein, stark vereinfacht und doch allen Fragen gerecht werden. Irgendwann weiß ich, was das meiste Erstaunen hervorruft, ohne zu einer gefährlichen Diskussion zu entarten: Die vier Jahreszeiten, deutsche Autos und Merkel. Letztendlich ist alles  abhängig vom doppeldeutigen und unangenehmen oder wachen, echten Interesse meines Gegenübers.

Eine unter zehn Millionen.
Eine unter zehn Millionen.

Am Ende der einen Fahrt stehe ich grübelnd mit den Massen in Lima, warte auf eine Fortsetzung, eine unter vielen. Ich winke ein Colectivo heran und frage mich, wer ich heute bin. Vielleicht Kaya, vielleicht Anna. Vielleicht einfach nur eine weitere Weltenbürgerin.

 

Schreibe einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

Diese Website verwendet Akismet, um Spam zu reduzieren. Erfahre mehr darüber, wie deine Kommentardaten verarbeitet werden.

error: Hey, das sind meine Inhalte! Wenn sie dir gefallen, lass uns drüber reden...